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Flüchtig

  • Autorenbild: Jazz Double-u
    Jazz Double-u
  • 21. Feb. 2022
  • 3 Min. Lesezeit

„Karl Hackett, britischer Grafiker, ist in Großbritannien zu einer Freiheitsstrafe

von fünf Jahren auf Bewährung verurteilt worden. Der 37-Jährige hatte sich

nach einer Zugkatastrophe im vergangenen Jahr für tot ausgegeben, um eine

neue Existenz aufbauen zu können. Um sicher zu gehen, dass er zu den Opfern

des Zugunglücks von Paddington gezählt wurde, rief Hackett mehrmals unter

falschem Namen bei der Polizei an. Die Richter kamen zu dem Urteil, dass der

ehemalige Scheintote mit seinen Anrufen den Sicherheitskräften kostbare Zeit

bei ihrer schwierigen Arbeit gestohlen habe.“


Sein Herz rast. Die Schreie erscheinen unecht – verzerrt, dumpf. Der laute Knall hallt dröhnt noch immer in seinen Ohren nach. Sein Gesicht liegt gepresst auf der benachbarten Sitzfläche. Wie war er hierhergekommen? Er schließt seine Augen und das Einzige, was er sieht, ist seine Tochter. Wie sie beim Lachen immer diese süßen Grübchen bekam. Es war ihr 10. Geburtstag und sie lief auf ihn zu, weil er ihr Geschenk geholt hatte. Sie riss es ihm ungestüm aus der Hand. Sie wusste, was drin war, denn seine kleine Blume hatte es sich gewünscht.

Karl öffnet seine Augen, das grelle Blau der Sitzfläche lässt ihn einen stechenden Schmerz spüren. Er drückt sich ab und kommt auf die Beine. Alles scheint schief zu sein. Oder spielt sein Kreislauf verrückt? Überall liegen und sitzen stöhnende, schreiende und wimmernde Menschen – manche sind voller Blut. Sie liegen kreuz und quer im Wagon des Zuges. Seine Flucht hat ein jähes Ende genommen, denn der Zug steht still und alles wird vom Chaos absorbiert. Sein schwirrender Blick fällt aus dem Fenster. Das Chaos setzt sich draußen fort. Ein Wagon liegt auf der Wiese, zerknittert, gequetscht. Sein Kopf ist völlig leer. Er spürt und denkt rein gar nichts. Nur, dass er hier raus will, dass er wegwill. Er nimmt seinen Koffer, torkelt den schiefen Mittelgang entlang, steigt über Arme und Beine. Das Dröhnen seiner Ohren wechselt zu einem Piepen und wieder zurück. Seine Füße tragen ihn nicht mehr. Er schnappt sich einen Haltgriff von der Decke und hält inne, schließt wieder seine Augen. Er sieht den Moment, als seine Tochter vor ihm stand – nackt im Bad. Wie erstarrt, klebte sein Blick an ihrem kleinen Bauch. Langsam wanderten seine Augen an ihrem wunderschönen noch immer kindlichen Körper hinauf zu ihren Augen. In ihnen eine Mischung aus vielen Gefühlen. Angst, Scham, Verzweiflung. Und er begriff in diesem Moment, dass sie begriffen hatte, was mit ihr geschah. Ihre Hand und ihre Augen wanderten gleichzeitig zu ihrem viel zu schnell gewachsenen Bauch. Sie legte ihre Hand auf die Wölbung ihres Unterleibes und schaute noch einmal auf – ihm direkt in die Augen. Eine kleine verirrte Träne kämpfte sich wie in Zeitlupe ihre Wange herab. Ihr Blick vernichtend und anklagend. Die Erinnerung ist so wahrhaftig, dass er glaubt, der Geruch seiner Tochter steigt ihm in die Nase. Er vermisst sie so unmenschlich. Sein Herz krampft. Sein Körper zittert. Er öffnet die Augen und die Erinnerung verschwindet so schnell wie sie kam, und wird abgelöst von dem herrschenden Gedanken. Ich muss hier raus. Ich muss weg. Seit dem Moment im Bad ist das sein omnipräsenter Gedanke.

Bei der Tür angekommen versucht er sie zu öffnen, doch der Wagon scheint sich verzogen zu haben. Er setzt sich hin, und tritt mit aller Kraft immer wieder dagegen. Wum, wum, wum. Stück für Stück öffnet sich die Tür und er schlüpft durch einen Spalt ins Freie. Mit der frischen Luft kommt die Klarheit zu ihm zurück und er weiß, was zu tun ist.

Er kniet sich ins Gras, öffnet seinen Koffer und nimmt das Geld heraus. Mehr nicht. Den Koffer wirft er ins Chaos der Trümmer.

Das Zugunglück ist Glück. Sicherlich teilen nicht alle der anwesenden und nicht mehr anwesenden Fahrgäste diese Meinung. Aber für ihn gab es Hoffnung, weil er für tot gehalten werde. Vielleicht hasst sie ihn ein bisschen weniger, wenn sie glaubt, er sei tot.

Aus Chaos entsteht Ordnung. So fühlt es sich gerade an.

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