Die verborgenen Geheimnisse von Großmutters Haus
- Jazz Double-u
- 29. März 2021
- 4 Min. Lesezeit
Ich möchte niederschreiben, was im Haus meiner Großmutter geschah in dem Sommer, als ich acht oder neun war. Ob es wirklich geschehen ist? Mit Gewissheit kann ich es nicht sagen.
Mit Sack und Pack und völlig aufgelöst, lieferte mich meine Mutter bei meiner Großmutter ab. Die halbe Autofahrt hatte sie geweint. Konnte man so sicher Autofahren? Mit einem verschwommen, verquollenen Sichtfeld? Ich hoffte, dass wir heil ankamen und bohrte meiner Mutter förmlich Löcher in den Hinterkopf, als könne ich so Einfluss auf ihre Fahrweise nehmen. Ja... meine Mutter hatte mich nach hinten gesetzt. Warum? Sollte ich die Tränen nicht sehen? Sinnlos – ich hörte die permanenten Schluchzer. Bei der Ankunft nahm mich Großmutter länger als gewohnt in den Arm. Sie wollte mich trösten. Lieb von ihr, aber ich war überzeugt, dass es mir gut ging. Meine Mutter trug noch schnell meine Sachen mit ins Haus und verschwand wieder schnell zurück ins Land ihrer Qualen.
Am Abendbrottisch brach Großmutter das Schweigen: „Liebes, du weißt aber, dass du daran keine Schuld hast? Mama und Papa mögen sich einfach nicht mehr. Kinder können da nix für, weißte?”
„Ja, Omi. Ich weiß, dass ich nicht schuld bin und mir geht’s wirklich gut.” Dieser Satz stellte sich als Lüge heraus. Das begriff ich in diesem Moment, als ich ihn laut ausgesprochen hatte. In meinem Kopf hatte diese Lüge noch Bestand gehabt. Ich glaubte sie. Ich stellte sie nicht in Frage. Sie war unumstößliche Realität für mich. Doch jetzt, nach dem ich diese Worte laut ausgesprochen hatte, wusste meine Omi davon. Damit hatte ich diese arme alte Dame belogen. Ich konnte mich selbst nicht mehr belügen.
„Oma, ich bin satt und müde. Ich gehe hoch ins Zimmer.” Oben angekommen, warf ich mich ins Bett und weinte mich in den Schlaf.
Ich sollte den ganzen Sommer bei meiner Großmutter bleiben. Den Rosenkrieg zwischen meinen Eltern, um das Haus und um das sonstige Hab und Gut, sollte ich nicht hautnah mitbekommen Und es war auch eigentlich nicht schlimm für mich, denn ich war gern bei meiner Omi. Sie war so eine liebe und einfache Frau mit einer tiefen Weisheit, welche sie durch Lebensjahre erlangt hatte. Was nützt ein Doktortitel in Mathematik, um die spektakulärsten Formeln lösen zu können, wenn man die Formel des Lebens nicht beherrscht?
Mir ging es jedoch immer schlechter – kein Appetit, kein Antrieb. Meine Großmutter fing mich so gut es ging auf. Ich begann „Dinge“ wahrzunehmen; „Dinge“ zu träumen; „Dinge“ zu sehen. In meinen Träumen verfolgten mich geisterhafte kindliche Gestalten. Ich schlief eigentlich immer mit geschlossener Zimmertür, wachte jedoch oft mitten in der Nacht durch diese unsäglichen Träume schweißgebadet auf. Doch immer öfter die Tür stand weit offen. Man blickte in ein schwarzes Loch, denn der Flur vor meinem Zimmer hatte keine Fenster. Meine Großmutter sagte, dass sie wie ein Stein schliefe und es sich nicht erklären könne. “Mäuschen, vielleicht ist es zugig im Haus?”
Das ließ sich testen. Ich stellte einen leichteren Hocker gegen die Tür, den der mögliche Zugwind nicht so einfach wegdrücken konnte. Drei Tage passierte nichts... doch der vierte Tag verängstigte mich bis ins Mark. Die Tür stand offen – der Hocker wurde einfach beiseitegeschoben. Ich starrte mit aufgerissenen Augen ins rabenschwarze Nichts des Flures. Ich zog voller Panik die Bettdecke über den Kopf und verharrte regungslos bis zum Sonnenaufgang – denn ans Schlafen war nicht mehr zu denken. Großmutter ließ mich fortan in ihrem Bett schlafen. Die Träume hörten auf und auch die Türen machten keinen Ärger mehr. Jedoch fingen die „Dinge“ nun am Tag an. Immer, wenn ich allein war. Ich spielte eines Tages draußen in der Sonne mit meiner Puppe. Es war ein relativ windstiller Tag. Ich nahm plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Meine Schaukel bewegte sich – als würde jemand schaukeln. Aber sie war natürlich leer, denn ich war allein bei Großmutter und hatte im Ort auch keine Freunde. Ich schritt vorsichtig zur Schaukel hinüber. Ich wollte, dass sie stoppte – ihren irrwitzigen Alleingang unterbrach. An der Schaukel angekommen, ließ sie sich ganz einfach zur Ruhe bringen. Im Gefühl des Triumphes wollte ich mich umdrehen und gehen... doch der Triumph war eine Illusion. Denn jetzt holte die Schaukel richtig aus und raste gegen meinen Kopf. Ich wachte im Krankenhaus auf – aber ich war nicht schwer verletzt. Ich hatte nur eine leichte Gehirnerschütterung und konnte am selben Tag wieder entlassen werden. Die „Dinge“ wurden jedoch noch schlimmer nach dem „Unfall“. Ich hörte Stimmen aus dem Keller – Kinderstimmen. Lachen. Weinen. Schreinen. Ich sah schemenhafte Gestalten durch die Zimmer des Hauses wandern. Sie hatten die Statur von Kindern. Erst erzählte ich meiner Großmutter nichts, doch meine Angst und Aggressivität der Gestalten nahmen zu. Sie präsentieren sich mir immer aufdringlicher - störten nun auch meine Nachtruhe neben meiner Großmutter - zogen mir die Decke weg. Ich begann zu schlafwandeln und riss alle Fenster im Haus auf – gut, dass es Sommer war. An manchen Tagen saß ich stundenlang allein in der Küche und starrte die grauen Hängeschränke an. Die Türen öffneten und schlossen sich im Wechsel immer wieder – kam meine Großmutter rein, hörte es augenblicklich auf. Sie blickte in mein ausdrucksloses verstörtes Gesicht mit dem versteinerten Blick auf die Schränke. Meine Großmutter hielt es eines Tages nicht mehr aus. Sie ließ mich nach verschiedenen ärztlichen Konsultationen und mit Zustimmung von einer Mutter für eine dreiwöchige stationäre Therapie einweisen. Dort verschwanden die „Dinge“. Ein Arzt bescheinigte mir eine traumatische Belastungsstörung aufgrund der Scheidung meiner Eltern. Nach drei Wochen war ich „gesund” – meine Mutter holte mich ab. Wir fuhren in ihre neue Wohnung – mein neues Heim – und das Leben ging weiter. Ich war wohl auf – und sah nie wieder „Dinge“ und wir sprachen auch nie wieder über diesen Sommer.
Nun als Erwachsene sehe ich die Geschehnisse anders. Ich habe recherchiert - das ursprüngliche Haus meiner Großmutter war 1940 fast vollständig abgebrannt – nur der Keller war erhalten geblieben. Es war damals ein Waisenhaus gewesen. In den Archiven der Stadt fand ich in handschriftlichen Aufzeichnungen den entscheidenden Hinweis. Alle 13 Kinder des Waisenhauses waren bei dem Feuer umgekommen. Nun als Erwachsene glaube ich, dass ich durch meinen miserablen Gemütszustand besonders sensibel oder empfänglich war? Ein guter Empfänger von Nachrichten aus dem Jenseits.
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