Die Rivalen
- Jazz Double-u
- 2. Feb. 2022
- 4 Min. Lesezeit
„Ich komme ja! Herr je!“ Mit schürfenden, für seine Verhältnisse schnellen Schritten bewegte sich Harry zur Tür. Er mochte es gar nicht, so früh geweckt zu werden – an dem einzigen Tag der Woche, an dem er ausschlafen konnte. Montag bis Freitag ging er arbeiten und sonntags achtete Ma ganz genau darauf, die Kirche nicht zu verpassen.
Ding. Dong.
Der Postbote kann es nicht sein. Es ist zu eindeutig zu früh. Wo ist Ma? Sie macht doch immer die Tür auf!
Er riss aufgrund des unangemeldeten Besuchers erbost die Tür auf. Sein Bauch wippte noch lange nach.
Die warmen braunen Augen des Besuchers erfassten ihn. Eine unangenehme Stille, die nur mit Blicken gefüllt war, breitete sich aus.
„Ja?“, durchbrach Harry unsicher die Stille. Er erkannte den Besucher nicht, doch er hatte etwas in seinem durchbohrenden Blick, dass ihn tief in der Seele berührte.
Der Fremde rieb sich den Nacken und unterbrach den Augenkontakt. „Ähm, ist Frau Huck zu sprechen?“, stotterte der Unbekannte mehr zum Fußabtreter als zu Harry.
„Nein, ich denke, sie ist unterwegs.“ Harry hatte kombiniert, dass sie einkaufen sein musste, da das Auto in der Einfahrt fehlte. „Worum geht es? Kann ich Ihnen helfen?“ Ihre Blicke trafen sich erneut. Und diesmal wurde Harry von einem Gefühl umhüllt – ein Gefühl der Vertrautheit. Der Besucher hatte die gleiche Augenfarbe wie er.
„Sagen Sie ihr einfach, dass ich da war und geben Sie ihr diesen Zettel. Damit haben Sie mir schon geholfen. Danke.“ Der Besucher drückte Harry den feuchtgekneteten Zettel in die Hand und drehte sich auf der Hacke um, ohne überhaupt eine Reaktion abzuwarten.
Harry schloss schulterzuckend die Tür.
Hat Ma etwa einen Verehrer? Mit diesem Gedanken breitete sich ein Unbehagen in ihm aus. Sein Herz wurde schwer. Seine Mutter hatte keinen Mann mehr gehabt seit Harrys Vater vor 37 Jahren verschwunden war. Harry war immer die Nummer eins und die einzige Person im Leben seiner Mutter. Sie waren der Lebensinhalt des anderen.
Unsicher faltete er den schweißfeuchten Zettel auf.
Eine Telefonnummer! Natürlich!
Harry starrte ungläubig auf die scheinbar sinnlos aneinandergereihten Ziffern, die doch einen Sinn ergaben. Den Sinn einer Kontaktaufnahme.
Als er den Namen las, gefror ihm das Blut in den Adern.
Peter? Nein! Das kann nicht sein! War das gerade mein verschollener Vater? Was will er nach 37 Jahren hier? Spinnt der, hier aufzutauchen! Warme und kalte Wellen fluteten seinen Körper. Mit ihnen ergriff ein Gefühl des Schwindels seinen Kopf. Er musste sich sofort setzen. Er hielt sich an den Wänden des Flurs fest und stolperte halb in die Küche, ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er hatte seinen Vater zuletzt gesehen als er 10 war. Wie hätte er ihn erkennen können? Harry war kein feinfühliger Mensch. Nie gewesen. Und doch hatte er etwas gespürt, als der Unbekannte vor ihm stand. Warum hatte er nicht gleich reagiert und den Zettel sofort aufgefaltet? Aber was wäre, wenn er es gleich verstanden hätte, wer da vor ihm stand. Was hätte er sagen sollen?
Hey, Dad! Wo kommst du denn her? Wo warst du die letzten 37 Jahre?
Aber viel wichtiger: Was suchte er hier? Wollte er Mutter zurück?
Der letzte Gedanken trieb ihm ein Pfeil in sein Herz. Er legte den Zettel auf den Küchentisch und starrte ihn an. Ein Gedanke nach dem anderen gaben sich in seinem Hirn die Klinke in die Hand. Sein Vater musste doch gewusst haben, wer er war? Oder dachte er seine Ex-Frau hatte sich einen Jüngeren gesucht? Er hätte dem neuen Macker doch nicht seine Telefonnummer in die Hand gedrückt. Warum hat er nicht gesagt, wer er ist? Harrys tief vergrabenen Sehnsüchte nach einer Vaterfigur überschwemmten ihn. Warum war Peter damals verschwunden? Er wusste es gar nicht mehr. Warum hatte er Mutter in den ganzen Jahren nicht gefragt? Warum hatte Mutter nie etwas über ihn erzählt? Nie etwas Gutes, nie etwas Schlechtes. Er war von jetzt auf gleich weg. Seine Mutter und Harry bildeten seit dem Verschwinden eine unzertrennliche Einheit. Deshalb wohnten sie auch noch zusammen. Sie genoss es nicht allein sein zu müssen und Harry genoss die Annehmlichkeiten, umsorgt zu werden. Er selbst hatte noch nie seine Wäsche waschen müssen und kochen konnte er auch nicht. Es war eine Win-Win-Beziehung. Mutter war nicht allein und er wurde umsorgt. Er brauchte deshalb auch keine Frau in seinem Leben. Mutter gab ihm alles, was er brauchte. Also fast alles. Eine Kleinigkeit holte er sich dann und wann im Puff. Plötzlich wich das Gefühl des ersehnten Vaters erneut, dem Gefühl, dass jemand die Macht hatte, ihre Beziehung zu zerstören. Mutter hatte Vater einmal geliebt. Und wenn sie sich wieder in ihn verliebte? Harry würde dann hinten runterfallen! Das konnte er nicht zulassen. Oder?
Übelkeit und Brechreiz überkamen ihn. Plötzlich klapperte es vorn an der Eingangstür.
„Harry?“, rief die Stimme seiner Mutter etwas außer Atem. „Hilf mir doch bitte mit dem Einkauf. Die Tüten im Auto. Hole sie bitte.“
Harry blieb wie gelähmt auf dem Stuhl sitzen, unfähig sich zu bewegen. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Plötzlich war sein Kopf wie leergefegt. Er stand auf, lief zum Mülleimer, zerriss den Zettel in zig kleine Fetzen, ließ sie in den Behälter rieseln. Wie Schneeflocken tanzten die kleinen Papierflocken ins Nirwana – in die ewige Vergessenheit.